IMI-Analyse 2025/14

Lettlands Weg in die Militarisierung – Eine historische Skizze

von: Udo Bongartz | Veröffentlicht am: 24. April 2025

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Die Regierungen der baltischen Staaten gehören in EU und NATO zu jenen Politikern, die im russisch-ukrainischen Konflikt den Sieg der Ukraine fordern und keine diplomatischen Verhandlungen mit dem „Putin-Regime“ wollen. Sie sind die energischsten Befürworter für Waffenlieferungen an Kiew und sie drängen zu immer neuen Sanktionsrunden gegen Russland, bis der ukrainische Sieg und die russische Niederlage erreicht werden soll. Entspannungspolitik wird mit „Appeasement“ gleichgesetzt; Aufrüstung, Armee und NATO hingegen gelten als Garanten der Sicherheit.

Die skeptische Haltung der Balten gegenüber dem großen Nachbarland basiert auf historischen Erfahrungen. Die Balten mussten ihre nationale Unabhängigkeit gegen russischen Zarismus, deutschbaltische Oberschicht und schließlich gegen bolschewistische Besatzer erkämpfen. Die Kämpfe zwischen den Ethnien hinterließen tiefe Spuren und gegensätzliche Narrative, die bis heute das Verhältnis zwischen Balten und Russen belasten.

Am Beispiel Lettland möchte ich im Folgenden die verschiedenen historischen Etappen seit dem Ersten Weltkrieg skizzieren und aufzeigen, wie nicht gelöste ethnische und soziale Konflikte den Diskurs um Krieg und Frieden verengen, was sich auf die heutige angespannte internationale Situation auswirkt.

Bis Ende des Ersten Weltkriegs

Eine entscheidende Phase für die osteuropäische Nationenbildung war der Zerfall des multiethnischen Habsburger Reiches und die Niederlage des Zarenreichs bzw. der UdSSR gegen Deutschland. Am Ende des Weltkriegs gingen die Schlachten in Befreiungskriege über, in denen u.a. Lettland seine nationale Unabhängigkeit erreichte. Während des Krieges gegen die deutsche Reichswehr bildeten sich in der russischen Armee lettische Einheiten. Sie teilten sich später als „Schützen“ in jene, die für eine Sowjetrepublik kämpften und jene, die für einen unabhängigen lettischen Nationalstaat fochten.

Am 18. November 1918 wurde die Republik Lettland proklamiert. Karlis Ulmanis wurde Regierungschef in einem Land, in dem noch Bürgerkrieg tobte. So wie die einzelnen Etappen des Ersten Weltkriegs kompliziert darzustellen sind, so ist es auch im relativ kleinen Gebiet Lettlands: Hier verbündeten und bekämpften sich unterschiedliche ethnische, soziale und politische Gruppen in verschiedenen Phasen des Krieges.

Die deutschbaltischen Adelskreise, die vor dem Krieg die soziale Oberschicht bildeten, kämpften teilweise mit den nationalen Einheiten der Letten gegen Bolschewisten; später waren sie verfeindet und die deutschbaltische Landeswehr verlor die Entscheidungsschlacht. Reichswehrsoldaten, die den Westen Lettlands besetzt hatten, sollten sich nach dem Versailler Vertrag aus dem Baltikum zurückziehen. Doch viele sahen in ihrer Heimat keine Zukunft und kämpften als Freikorpssoldaten in einer weißgardistischen Armee weiter, die wiederum gegen die lettische Armee verlor. Die Freikorpssoldaten, die im Osten gekämpft hatten, gehörten nach ihrer Rückkehr in Deutschland oftmals zur Kerngruppe rechtsextremistischer Bewegungen.

Im Jahr 1919 hatte Lettland zeitweise drei Regierungen. Die Reichswehr hatte die deutschfreundliche Regierung Niedra eingesetzt. Ein Großteil des Landes wurde von der bolschewistischen Regierung von Stucka beherrscht. Die Regierung von Ulmanis musste damals auf einen Dampfer in der Hafenstadt Liepaja fliehen, wo sie von britischen Kanonenbooten geschützt wurde. Viele Letten flohen vor der Reichswehr. Die Propaganda der Alliierten über die Untaten deutscher Soldaten war bis in den Osten vorgedrungen. Die bolschewistische Regierung, die zunächst mit Hoffnung auf Frieden und sozialer Gerechtigkeit verbunden war, ging mit „rotem Terror“ brutal und willkürlich vor und verspielte damit die Sympathien der Bevölkerung.

Die nationale Bewegung von Ulmanis, die sich schließlich durchsetzte, war auch eine soziale: Jahrhundertelang hatte der deutschsprachige Adel die Letten als „Undeutsche“ beherrscht. Nun hatten sich die Letten, die einst die Unterschicht bildeten, emanzipiert. Ein lettisches Bürgertum war entstanden und forderte politische Rechte ein.

Bis heute gelten in Lettland Soldaten, die für ein unabhängiges Lettland gekämpft hatten, als „Helden“, die verehrt werden. Die nationalistische Symbolik wurde von den Deutschen übernommen. Ein lettischer Historiker sagte mir einmal, dass die Letten sogar „Die Wacht am Rhein“ gesungen haben. Letten übernahmen auch die Traditionen deutscher Studentenkorporationen mit Vollwichs. Sie waren zur Zeit der Sowjetunion verboten, seit der lettischen Unabhängigkeit sind sie wieder erlaubt.

Die Zwischenkriegszeit

Die lettische Nationalversammlung beschloss, eine parlamentarische Republik einzuführen. Maßgebliche Parteien waren die Bauernpartei und Sozialdemokraten. Die kommunistische Partei wurde verboten. Auch die ethnischen Minderheiten, Deutsche und Russen, waren mit eigenen Parteien im lettischen Parlament vertreten. Sie durften als Abgeordnete in ihrer eigenen Sprache reden. Ethnische Minderheiten hatten kulturelle Rechte, sie durften eigene Schulen und Hochschulen errichten und den Unterricht bestimmen. Der liberale Teil der Deutschen beteiligte sich am Aufbau des lettischen Nationalstaats. Paul Schiemann war ihr vorrangiger Vertreter. Er entwickelte das Konzept des a-nationalen Staates.

Was kaum bekannt ist: In Lettland wurden in Folge einer Agrarreform die Großgrundbesitzer, meistens deutsche Adelige, entschädigungslos enteignet. Etwa die Hälfte des lettischen Territoriums hatte den Baronen gehört, die, wenn sie nicht gegen ein unabhängiges Lettland opponiert hatten, noch 50 Hektar und ihren Herrensitz behalten durften. Deutschbalten klagten später vergeblich beim Völkerbund gegen diese Entscheidung. Im Gegensatz zur Enteignung in der Sowjetunion verlief die lettische Agrarreform unblutig. Das Land wurde unter lettischen Soldaten aufgeteilt.

Die ethnischen Minderheiten im Jahr 1935:[1]

NationalitätAnzahlin %
Letten1,472,61275.50
Russen206,49910.59
Juden93,4794.79
Deutsche62,1443.19
Poles48,9492.51
Belarussen26,8671.38
Litauer22,9131.17
Estonians7,0140.36
Andere8,9460.46
Unbekannt1,0790.05
Total1,950,502100.00

In der Zeit des Parlamentarismus wurden, ähnlich wie in Deutschland, Reformen für die lohnabhängige Bevölkerung durchgeführt: Beispielsweise der 8-Stunden-Tag, die Abschaffung des Drei-Klassen-Versorgungssystems in der Psychiatrie, zugelassene Gewerkschaften und Sozialversicherungen. Deutsche und Deutschbalten blieben im Land als Unternehmer, Wissenschaftler, Angestellte oder Arbeiter.

1934 organisierte Karlis Ulmanis, der in Lettland als Staatsgründer verehrt wird, einen unblutigen Putsch, löste das Parlament auf und ernannte sich zum Regierungschef mit diktatorischen Vollmachten. Er ließ sich als „Vadonis“ (=Führer) verehren. Mussolini war sein Vorbild, die Politik wurde nationalistisch. Das Motto hieß: „Lettland den Letten“.

Ulmanis setzte eine Assimilierungspolitik durch. Die Minderheitenschulen wurden abgeschafft und wirtschaftliche Tätigkeit der ethnischen Minderheiten war unerwünscht. Die staatskapitalistisch organisierte Wirtschaft zeigte sich in der Übernahme von Firmen; Großbetriebe wurden gegründet und staatlich finanziert. 1939 waren 90 Prozent der Kreditinstitute unter lettischer Führung; 1933 waren es nur 20 Prozent gewesen. Nach der Weltwirtschaftskrise erlebten die Letten unter Ulmanis eine wirtschaftliche Blütezeit und Wohlstand. Ulmanis ließ Sozialdemokraten verfolgen und verhaften; verbot aber auch die rechtsradikalen Perkonkrustiesi (Donnerkreuzler), die antisemitisch und antideutsch waren. Während der Ulmanis-Diktatur wurde kein politisch Verfolgter hingerichtet.

1939 begrüßte Ulmanis, dass Deutschbalten nach dem Hitler-Stalin-Pakt das Land verließen. Kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Westpolen überfiel auch die Rote Armee, wie im Geheimabkommen vereinbart, Ostpolen und die baltischen Länder. Ulmanis hatte dazu aufgerufen, keinen vergeblichen militärischen Widerstand zu leisten. Die Sowjets besetzten Lettland im Juni 1940. Ulmanis kam in Haft, wurde deportiert und starb 1942 in Turkmenistan. Bis heute genießt er über nationalkonservative Kreise hinaus hohes Ansehen, nicht nur als Staatsgründer, sondern auch seine Zeit als „Vadonis“ wird gelobt. Im nationalistisch gefärbten Geschichtsbuch „Latvija, Liktena gaitas 1918-1991“ von 2006 heißt es zum Putsch von Ulmanis:

„Nach Ulmanis‘ Ansicht war der Aufbau einer aktiven Landwirtschaft notwendig, die industrielle Nutzung des Reichtums Lettlands (fließendes Gewässer, Wälder, Moore), ebenso sollten Industrie und Handel national werden. `Lettische Soldaten haben Lettlands Freiheit nicht erkämpft, damit eine Handvoll Ausländer ein bequemeres Leben antreffen als das eigene Volk`.[2]

Die Jahre 1939-1945

Kurz vor dem Angriff der Deutschen auf Polen unterzeichneten Ribbentrop und Molotow den „Hitler-Stalin-Pakt“ im August 1939. Der offizielle Nichtangriffspakt sah in einem geheimen Zusatzabkommen die Aufteilung und militärische Besetzung der osteuropäischen Länder durch Wehrmacht und Rote Armee vor. Noch im Dezember 1939 führte das Nazi-Regime mehr als 50.000 „Baltendeutsche“ „heim ins Reich“. Viele von ihnen wurden in den besetzten Teilen Polens angesiedelt, die „arisiert“ werden sollten. Ankommende Baltendeutsche konnten sich ein Haus aussuchen, so dass die polnischen Bewohner ihre Wohnung verlassen mussten.[3]

Die Rote Armee besetzte ab Juni 1940 Lettland. Eine sowjetische Marionettenregierung wurde eingesetzt, die Verwaltung des Landes kam unter bolschewistischer Kontrolle.[4] Nach manipulierten Wahlen bat der „Volkskongress“, die Sozialistische Republik Lettland in die UdSSR aufzunehmen.

Für die Letten begann das „schreckliche Jahr“: Etwa 800 Offiziere der lettischen Armee wurden verhaftet, die meisten starben im sowjetischen Arrest. Mehr als 4600 lettische Soldaten kamen in sowjetische Lager. Sowjetische Tribunale fällten willkürliche Urteile. Im ersten Jahr stalinistischer Herrschaft wurden mehr als 7000 Letten verhaftet.

Kurz bevor die Wehrmacht Lettland überfiel, organisierten Tschekisten in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 1941 die erste Massendeportation. Angeblich regimefeindliche Letten und ihre Familien wurden in einer Nacht- und Nebelaktion nach Sibirien deportiert. Mehr als 15.000 Menschen mussten Jahre und Jahrzehnte in fernen GULAGs verbringen. Die Deportation erfolgte in Frachtwaggons. Etwa 40 Prozent der Deportierten starben auf der Wegstrecke, in den Lagern oder wurden hingerichtet.[5]

Infolge des Barbarossa-Feldzugs wurden die sowjetischen Besatzer von der deutschen Wehrmacht vertrieben. Die Deutschen wurden als „Befreier“ begrüßt, die die Wiederherstellung eines unabhängigen Lettlands versprachen. So fanden die Besatzer willige Kollaborateure. Sofort begann die Einsatzgruppe A der SS, Juden und Regimefeinde zu verfolgen.[6] In Riga und anderen Städten wurden Juden-Gettos eingerichtet. Am 30. November 1941 wurden 15.000 jüdische Ghetto-Bewohner an den Rigaer Stadtrand gebracht und fielen im Wald von Rumbula einer Massenexekution zum Opfer. Fortan diente das Rigaer Ghetto zur Aufnahme von Juden, die aus dem Reichsgebiet deportiert worden waren. Solche Massenhinrichtungen erfolgten auch in anderen Städten; auch Psychiatrie-Insassen wurden auf diese Weise erschossen. Die Massenerschießungen wurden vom SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln organisiert, der zuvor bereits für die Exekutionen im ukrainischen Babyn Jar verantwortlich gewesen war. Fast die gesamte jüdische Bevölkerung Lettlands wurde ermordet, etwa 70.000 Menschen.

Lettische Hilfspolizisten halfen den Deutschen. Sie führten beispielsweise Juden zu den Erschießungsstätten. Das Arajs-Kommando nahm aktiv an den Erschießungen teil.[7] Lettische Hilfstruppen waren auch an den Mordaktionen und Brandschatzungen in Belarus beteiligt. Im Februar 1943 begann die Rekrutierung von Letten für die Waffen-SS, um sich am Kampf gegen die Rote Armee zu beteiligen. Nach Auskunft lettischer Historiker erfolgte die Rekrutierung meistens mit Zwang. Zwei lettische SS-Divisionen wurden aufgestellt, wobei die 15. Waffen-Grenadier-Division der SS aus vormaligen lettischen Polizei-Bataillonen bestand.[8]

Nach Rückkehr der sowjetischen Besatzer wurden Kollaborateure hart bestraft, viele wurden hingerichtet oder in Gulag-Lager deportiert. Lettische SS-Legionäre unterlagen vielen Sanktionen: Sie durften beispielsweise nicht mehr in ihrem Heimatort wohnen und ein Studium wurde ihnen verwehrt.

Die Sowjetzeit bis 1991

Nach der Rückkehr der sowjetischen Besatzer blieb das stalinistische Regime repressiv. Mehr als 120.000 Letten flohen am Kriegsende in westliche Länder.[9] Mutmaßliche Feinde des Bolschewismus wurden weiterhin verfolgt. Lettische Oppositionelle gingen als „Waldbrüder“ in den Untergrund. Weitere Massendeportationen aus den baltischen Ländern folgten.[10]

Die Industrie wurde verstaatlicht, die Landwirtschaft kollektiviert. Die sowjetische Regierung ließ viele sowjetische Staatsbürger aus anderen Landesteilen nach Lettland immigrieren, damit sie in Riga oder den kleineren Städten des Landes in Fabriken arbeiteten. Letten vermuten, dass die Bolschewisten Letten zur Minderheit im eigenen Land machen wollten. Zur Zeit der Auflösung der UdSSR betrug der Anteil der Letten noch etwas über 50 Prozent der Einwohnerschaft. Letten beklagen, dass die eigene Sprache und Kultur unterdrückt wurden. Das Russische hatte für Sowjetbürger Vorrang. Von Letten wurden im Beruf gute russische Sprachkenntnisse verlangt, das Lettische war unerheblich und hatte eher einen Folklore-Status.

In der Tauwetter-Periode der Chruschtschow-Ära wurden manche juristische Fehlurteile zugestanden und Justizopfer rehabilitiert. Doch das Unrecht, das beispielsweise zwangsweise eingezogenen SS-Legionären widerfahren war, blieb weiterhin tabu. Der sowjetische Antifaschismus und das Narrativ vom „Großen Vaterländischen Krieg“ hatten Propagandafunktionen. Abweichende Erzählungen galten schnell als faschistisch.

Zur sowjetischen Zeit blieb Lettland ein bedeutender Industriestandort: In Riga wurden Radios und Telefonanlagen für die gesamte UdSSR produziert; in Jelgava wurde der Kleinbus RAF hergestellt. Letten wehrten sich gegen den geplanten Bau einer U-Bahn in Riga und gegen den Bau eines neuen Daugava-Wasserkraftwerks, weil sie die Ansiedlung weiterer Arbeitsmigranten verhindern wollten.

In den 80er Jahren wurde Widerstand öffentlich. Die Gruppe Helsinki86 demonstrierte am 14. Juni 1987 vor dem lettischen Nationaldenkmal zur Erinnerung an die Massendeportationen. In der Gorbatschow-Ära formierte sich eine Volksfront, die die nationale Unabhängigkeit forderte. Am 23. August 1989 wurde zur Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt zwischen den drei baltischen Hauptstädten eine Menschenkette gebildet. Am 4. Mai 1990 beschlossen die Abgeordneten des Obersten Sowjets in Riga die nationale Unabhängigkeit, die aber von der sowjetischen Führung noch nicht zugestanden wurde. Die Zeit der „Singenden Revolution“ begann, die sich an Prinzipien der gewaltlosen sozialen Verteidigung orientierte.

Am 13. Januar 1991 demonstrierten in Riga eine halbe Million Menschen. Sie erklärten sich mit der litauischen Bewegung solidarisch. Anführer riefen dazu auf, mit Barrikaden staatliche Institutionen, vor allem das Parlament, zu schützen. Einen Tag später griffen sowjetische OMON-Milizen die Demonstranten an, es gab mehrere Tote und Verletzte. Die Barrikaden blieben bestehen und bewahrten lettische Institutionen auch während des Moskauer Augustputsches 1991 vor sowjetischen Angriffen. Danach erkannte die sowjetische Führung Lettlands Unabhängigkeit an.[11]

Die lettische Unabhängigkeitsbewegung war zwar nicht „faschistisch“, wie von Verteidigern der UdSSR behauptet, doch deutlich nationalistisch und russophob. Damals konnten aus Lettland geflohene Russischsprachige in Deutschland Asyl erhalten.

Vom Zerfall der UdSSR bis heute

Nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit und Wiederherstellung einer bürgerlichen Staatsordnung befand sich Lettland in einer schweren Wirtschaftskrise. Damals wurden aus dem Ausland Hilfspakete geliefert. Die lettische Industrie verlor ihre Absatzmärkte; viele Betriebe wurden geschlossen, viele Arbeiter wurden arbeitslos; eine „verlorene Generation“ entstand. Noch heute sieht man in Riga viele Industriebrachen. Dort, wo sie planiert werden, entstehen Shopping Malls.

Lettland wurde in einer Zeit unabhängig, als im Westen die neoliberale Ideologie vorherrschte: Das Gegenteil von Sozialismus bedeutete angeblich Freiheit. Das bedeutete wenig Ausgaben für den Sozialstaat und eine Privatisierung der Wirtschaft. Die Letten erhielten Anteilsscheine am Staatsvermögen. Die meisten erwarben damit die eigene Wohnung; in den Plattenbauvierteln sind die meisten Bewohner Wohneigentümer. Die Anteilsscheine an der Industrie besaßen für die meisten keinen Wert, sodass sie von Oligarchen, die um ihre Bedeutung wussten, billig aufgekauft werden konnten.

Lettland weist heute gemäß Gini-Index eine der sozial ungleichsten Gesellschaften der EU auf.[12] Viele emigrieren, weil sie im westlichen Ausland bessere Bezahlung und bessere soziale Absicherung finden. Zur ärmsten Bevölkerungsgruppe zählen Rentner. Schlechte Arbeitsbedingungen für Mediziner und Pfleger begünstigen den Brain Drain. Das Gesundheitssystem ist steuerfinanziert, erfordert aber von Patienten viele Zuzahlungen. Rentner können sich Medikamente oftmals nicht leisten.[13]

Seit 2004 ist Lettland Mitglied der EU und der NATO. Westliche Ware ist allenthalben in den Regalen der Supermärkte zu finden. In Riga haben sich kleinere Firmen dem Markt angepasst, liefern chemische oder elektrotechnische Produkte. Wichtiger Wirtschaftszweig ist die Waldwirtschaft, die Hälfte des lettischen Territoriums besteht aus Wald. Viele Unternehmer begrüßen die EU-Mitgliedschaft. Tatsächlich hat sich sichtbar Wohlstand gebildet, der aber nicht alle erreicht hat und nun die Gesellschaft in Arm und Reich spaltet. In den Nullerjahren entwickelte sich in Lettland – ähnlich wie in den USA – ein wirtschaftliches Strohfeuer: Die Regierung hob die Löhne in kurzer Zeit stark an. Banken boten für den Häuserbau angeblich günstige Hypothekenkredite in Euro an, ohne die Solvenz ihrer Kunden zu prüfen. Von der Bankenkrise 2008/09 wurde die lettische Wirtschaft schwer erfasst. Der größten Privatbank, der Parex-Bank, drohte die Pleite und musste mit staatlichen Geldern „gerettet“ werden. Dies überforderte den lettischen Haushalt und die lettische Regierung ersuchte IWF und EU um Finanzhilfe.[14]

Danach setzte Ministerpräsident Valdis Dombrovskis eine scharfe Austeritätspolitik mittels „innerer Abwertung“ durch, wie sie wenige Jahre später auch von den Griechen gefordert wurde: Gehälter wurden um etwa ein Drittel gekürzt; viele verloren ihre Stelle; die Emigration erreichte Rekordwerte. Diese „Kur“ orientierte sich an den monetaristischen Maastricht-Kriterien, so dass man 2014 den Euro in Lettland einführen konnte. Der Euro führte nicht zu den gewünschten Investitionen. Der lettische Markt kann vom Ausland leicht beliefert werden; die Bevölkerung ist jedoch rückgängig, die Zahl der Konsumenten wird geringer.[15]

Während der Sowjetzeit vertraten in Lettland lebende Russen so etwas wie Leitkultur. Jetzt wurden sie zu einer ethnischen Minderheit, die sich anpassen sollte. Die Zweisprachigkeit auf Straßenschildern wurde abgeschafft. Firmenschilder dürfen nur noch in lettischer Sprache angebracht werden, was von einer speziellen Behörde kontrolliert wird. Die Minderheitenschulen wurden stufenweise verpflichtet, Lettisch als einzige Unterrichtssprache einzuführen. Mittlerweile wird sogar das Fach Russisch an staatlichen Schulen abgeschafft.

In den 90er Jahren erklärte man alle Einwohner, die erst nach der sowjetischen Okkupation immigriert waren, zu „Nichtbürgern“, die kein Wahlrecht hatten und auch bestimmte Berufe nicht ausüben durften. Dieser Status betraf zu Beginn etwa ein Drittel der lettischen Bevölkerung. So fühlten sich Russischsprachige dem Staat entfremdet und ein politisches Engagement schien unerwünscht.[16]

In der Saeima, dem lettischen Parlament, repräsentieren überwiegend liberalkonservative und nationalkonservative Parteien den Wählerwillen der lettischsprachigen Mehrheit. Bis 2022 vertrat die sozialdemokratische Partei Saskana die Interessen der russischsprachigen Minderheit. Sie stellte die größte Fraktion, wurde aber stets in der Opposition isoliert. Ministerpräsident Valdis Dombrovskis nahm als Koalitionspartner lieber die teilweise rechtsradikale „Nationale Allianz“ in sein Kabinett auf. Die Nationalkonservativen, die mit in vieler Hinsicht mit der AfD vergleichbar sind, agitieren gegen Woke-Themen und sind nicht nur außenpolitisch russophob. Ihre Polemik richtet sich auch gegen die russischsprachigen Bewohner des eigenen Landes, die sie als „Okkupanten“ oder „Migranten“ diffamieren.

Die Nationalkonservativen polemisieren ebenso gegen die Aufnahme von Flüchtlingen (Ausnahme: Ukrainer). Sie argumentieren islamophob. 2015 gehörte Lettland zu den Ländern, die die Aufnahme von Flüchtlingen weitgehend verweigerten. Als das belarussische Regime ankündigte, Flüchtlinge nicht mehr vom Betreten der EU-Grenzen abzuhalten, reagierte der lettische Staat mit der Errichtung von Zäunen und mit Pushbacks. Unter diesen Flüchtlingen befinden sich viele Afghanen und Iraker. Sie kommen also aus Gebieten, in denen auch die lettische Armee gekämpft hatte – mit den bekannten Folgen.

Gegenüber Russland war die lettische Haltung lange vor 2014 skeptisch; Lettland kritisierte den Bau von Nord Stream. Letten sind enttäuscht, dass Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion sich nicht zu den Verbrechen bekennt, zu denen sie die Okkupation des eigenen Landes zählen. Seitdem Wladimir Putin die Auflösung der UdSSR „als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete, herrscht die Furcht, dass er die Sowjetunion territorial wieder herstellen will.

Heikle Gedenktage: 16. März und 9. Mai

Zwei Gedenktage spalten die Gesellschaft. Der 16. März ist der Tag lettischer Nationalisten; der 9. Mai der Tag russischer Antifaschisten. Am 16. März 1944 gewannen lettische SS-Legionäre an der Seite der Wehrmacht eine Schlacht gegen die Rote Armee. Der Exil-Verband der SS-Veteranen, Daugavas Vanagi, beschloss, dieses Ereignis zum nationalen Gedenktag zu machen. Vorübergehend war er sogar nationaler Feiertag. Jedes Jahr am 16. März findet ein Gedenkzug der (noch lebenden) Veteranen und ihrer Sympathisanten vom Dom zum Nationaldenkmal in der Rigaer Innenstadt statt. Darüber berichtet die internationale Presse kritisch.[17]

Die lettische Öffentlichkeit betrachtet SS-Legionäre als antibolschewistische Freiheitskämpfer. Historiker weisen darauf hin, dass die (teilweise) zwangsrekrutierten SS-Legionäre vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal nicht als kriminell eingestuft wurden. Tatsächlich waren die Holocaust-Verbrechen längst geschehen, als die beiden lettischen SS-Divisionen gebildet wurden. Doch viele Angehörige der Polizei-Bataillone, die zuvor an deutschen Kriegsverbrechen und Holocaust beteiligt waren, fanden in der lettischen Legion Unterschlupf. Ihre Kollaboration ist in der lettischen Öffentlichkeit tabu.

Der 16. März ist heute kein staatlicher Gedenktag mehr; doch er wird von Nationalkonservativen nach wie vor zelebriert und findet auch in der nationalkonservativ gestimmten Jugend Anklang. Ministern ist die Teilnahme verboten. Doch die liberalkonservativen Parteien opponieren nicht offen gegen den fragwürdigen Gedenktag, weisen lieber auf das international gefährdete Image Lettlands hin. Antifaschistische Proteste gelten als Rowdytum. Geschichtsrevisionistisch erscheint auch ein Denkmal für SS-Legionäre, das nach einer Spendenaktion des lettischen Okkupationsmuseums im belgischen Zedelgem errichtet wurde. Dort internierten westliche Alliierte nach Kriegsende mehr als 10.000 lettische SS-Legionäre. Das Denkmal, das einen Bienenstock darstellte, sollte an die Wehrhaftigkeit des lettischen Volkes erinnern.[18] Die internationale Presse erfuhr davon und berichtete kritisch. Die belgischen Sozialdemokraten waren empört. Schließlich wurde eine Historiker-Kommission einberufen, die die Entfernung empfahl. Daraufhin protestierte die lettische Regierung, blieb aber erfolglos.

Vom Geschichtsrevisionismus zeugt auch der Rigaer Brüderfriedhof, der zentrale Ort der Soldaten-Verehrung. Dort sind führende SS-Legionäre bestattet, manche werden mit gesonderten Gedenkplatten verehrt. Zu den berüchtigsten Namen zählt Voldemars Veiss, der Chef der lettischen Hilfspolizei war und sich zur nationalsozialistischen Politik bekannte. Später starb er als SS-Legionär im Kampf und wurde vom Nazi-Regime nach einer aufwändigen Totenfeier bestattet. Noch heute findet sich seine Gedenkplatte mit frischen Blumen verziert.[19]

Ähnlich umstritten wie der 16. März ist der 9. Mai, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Der 9. Mai, an dem Russland das Ende des Großen Vaterländischen Krieges feiert, ist der wichtigste Gedenktag der russischsprachigen Minderheit. Er wurde jedes Jahr am Denkmal für die „sowjetischen Befreier“ Rigas und Lettlands gefeiert, das, von der Daugava aus betrachtet, dem lettischen Nationaldenkmal symmetrisch gegenüber lag. Das martialisch erscheinende Denkmal wurde 1986 eingeweiht – und im August 2022 abgerissen.[20] Nachdem die russische Armee die Ukraine überfallen hatte, sahen sich die lettischen Parlamentarier an einen Vertrag mit Russland nicht mehr gebunden, der Lettland zur Bewahrung des Denkmals verpflichtet hatte.

Das sowjetische Siegesdenkmal war der zentrale Identifikationsort der russischen Minderheit. Er war für sie von ähnlicher Bedeutung wie für die Letten das Nationaldenkmal. An Gedenktagen waren bzw. sind beide Orte mit einem Blumenmeer übersät. Lettische Abgeordnete beschlossen 2022, sämtliche Sowjetdenkmäler auch in anderen Städten abzureißen, weil sie an die sowjetische Okkupation und an den „Aggressorstaat“ Russland erinnerten. Protestdemonstrationen gegen den Abriss wurden verboten, abgelegte Blumen gleich wieder entfernt.[21] Fraglich ist aus lettischer Sicht beispielsweise die Aufschrift „1941-1945“ auf dem Siegesdenkmal in Riga – die Propaganda vom Großen Vaterländischen Krieg leugnet die Zeit des Hitler-Stalin-Pakts, in der auch die bolschewistische Seite schwere Kriegsverbrechen beging. Andererseits entledigt sich die lettische Gesellschaft mit der Beseitigung antifaschistischer Mahnmale der Erinnerungen an die eigene Kollaboration.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 steht die russische Minderheit unter Verdacht, die sogenannte „Spezialoperation“ der russischen Armee zu unterstützen. Das Argument „Sicherheit“ bedeutet im aktuellen Framing u.a. neben Militarisierung der Gesellschaft, die ethnische Minderheit zu assimilieren, also sie zu „lettisieren“. Der Kulturwissenschaftler Denis Hanovs meinte dazu, dass die russische Sprachgruppe keinen Bezug zum lettischen Staat hat. Ein Großteil von ihnen wurde als „Nichtbürger“ von der politischen Beteiligung in den 90er Jahren ausgeschlossen. Laut Hanovs sei es im postsowjetischen Raum nicht gelungen, Nationalstaaten zu etablieren, an denen alle ethnische Minderheiten beteiligt seien. Der soziale Zusammenhalt und die Integration von Minderheiten werde zur Frage der geopolitischen Sicherheit.[22]

Februar 22: Absage an Verhandlungen

Zum Jahresanfang 2022 war die Lage deutlich angespannt. Die russische Regierung postierte Truppenteile unmittelbar an der ukrainischen Grenze und bezeichnete das als Manöver. Zuvor hatte Russland von der NATO gefordert, über die Osterweiterung des Bündnisses zu verhandeln. Dies wurde von den NATO-Mitgliedsländern strikt zurückgewiesen.

Bereits im Januar stellte sich die Frage, ob die deutsche Regierung zu Waffenlieferungen bereit sei. Damals verlangte die estnische Regierung von Deutschland die Erlaubnis, Haubitzen aus ehemaligem NVA-Bestand an die Ukraine liefern zu dürfen. Der damalige lettische Verteidigungsminister Arturs Pabriks kritisierte die deutsche Gesellschaft in einem Interview mit der BILD-Zeitung scharf: Sie müsse ihre pazifistische Nachkriegsphilosophie überwinden. Der Lette verlangte von den Deutschen, Waffen ins Krisengebiet Ukraine zu liefern und er warf ihnen vor, aus geschäftlichen Gründen gute Beziehungen zu Russland zu unterhalten. Er drohte mit einem Bruch der EU, wenn andere Länder nicht die baltische Position übernehmen sollten.[23]

Kurz vor dem russischen Angriff trafen sich die drei baltischen Regierungschefs mit Olaf Scholz in Berlin.[24] Scholz sagte weitere Bundeswehr-Soldaten für den Standort Litauen zu. Ob die NATO in den osteuropäischen Mitgliedstaaten Truppen stationieren darf, ist laut NATO-Russland-Akte nicht eindeutig geklärt. Auf der Pressekonferenz verkündete Kaja Kallas im allgemeinen Einvernehmen, dass man nicht mit „dem Gewehr auf der Brust“ verhandeln werde. Es wurde deutlich, dass die baltischen Vertreter sich weigerten, die NATO-Osterweiterung zur Debatte zu stellen.[25] Der Angriff vom 24. Februar 2022 schien den Balten recht zu geben; schließlich hatten sie schon lange vor Russland gewarnt.

Aufrüstung und Sanktionen

In der EU und NATO setzten sich Polen und Balten, gestützt durch die Biden-Administration, weitgehend durch. Sanktionsrunden wurden auf EU-Ebene gefordert und beschlossen, immer mehr Waffen geliefert. Lettland steigerte seinen Militär-Etat seit 2014 auf mehr als zwei Prozent des BIP und übertrifft bereits die Drei-Prozent-Marke.[26] Gerade wird die Wehrpflicht für Männer wieder eingeführt; an weiterführenden Schulen ist Wehrkunde-Unterricht verpflichtend.[27] Die lettische Wirtschaft hofft auf militärische Aufträge, u.a. in der Drohnen-Produktion.

Das Land, das sich einst als Brücke zwischen Ost und West entwickeln wollte, grenzt sich nun mit hohen Zäunen und scharfen Kontrollen gegen Russland und Belarus ab. Die Handelsbeziehungen sind weitgehend unterbrochen; die Gasleitung stillgelegt, die Verbindung zum russischen Stromnetz gekappt. Auch Letten leiden unter Inflation, die besonders Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs verteuert haben. Lettische Logistik-Firmen, Eisenbahn und Häfen haben empfindliche Auftragseinbußen zu verzeichnen, weil von und nach Russland kaum noch Ware geliefert wird.

Der NATO-Stratcom-Diskurs

In Riga befindet sich die NATO-Stratcom-Zentrale, die den Diskurs weitgehend bestimmt.[28] In Lettland werden russische Medien und Webseiten blockiert. Öffentlich-rechtliche und private Medien vermitteln die NATO-Perspektive. Die Zentrale des öffentlich-rechtlichen TV-Senders ist mit einer weit sichtbaren Ukraine-Flagge geziert. Im gesamten Stadtbild Rigas sieht man Ukraine-Flaggen. Auf einem städtischen Plakat stand zu lesen: „Die Ukraine kann den Krieg gewinnen“. Auch an den Türen der Straßenbahnen befinden sich blau-gelbe Aufkleber.

Zu den journalistischen Formeln gehört die Wendung vom „unprovozierten russischen Angriffskrieg“. Selenski wird von der lettischen Regierung bedingungslos unterstützt und seine Politik mit ukrainischen Interessen gleichgesetzt. Es gilt als verpönt, mit dem „Putin-Regime“ über einen Waffenstillstand verhandeln zu wollen. Der Krieg soll erst beendet werden, wenn alle Gebiete zurückerobert worden sind, möglicherweise noch Putin gestürzt und Russland zerteilt ist.[29] Diplomatische Verhandlungen stehen unter dem Verdacht der Appeasement-Politik gegenüber „Putler“, Russland müsse besiegt werden, um seine imperialistischen Vorhaben zu stoppen und nur militärische Aufrüstung und Abschreckung garantierten Sicherheit. Entspannungspolitik wird mit Appeasement gleichgesetzt. Auch die (uneingestandene) Assimilierung der russischen Minderheit geschieht im Namen der Sicherheit. Im letzten Jahr mussten russische Staatsbürger, die in Lettland leben, einen lettischen Sprachtest bestehen, wenn sie die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung beantragten.[30]

Ebenso wie die eigenen SS-Legionäre betrachtet man faschistische Gruppen in der Ukraine als Freiheitskämpfer. Für Asow-Soldaten wird in Lettland Geld gesammelt; die faschistische Ausrichtung dieser Kämpfer entweder geleugnet oder verharmlost.[31] Die Assimilierungspolitik gegen die russischsprachigen Minderheiten eint lettischen und ukrainischen Nationalismus, ebenso die Verleugnung der Kollaboration mit dem NS-Regime. Mittlerweile beklagen lettische Journalisten den verengten Diskurs und die politischen Vorgaben. Führende Redakteure des öffentlich-rechtlichen Rundfunks publizierten dazu im April 2024 eine Erklärung:

Russlands umfassender Angriff auf die Ukraine hat die Freiheit des Wortes noch weiter eingeschränkt: Von den Medien, gerade von den öffentlich-rechtlichen, wird nur `patriotischer` Inhalt erwartet, aber Meinungsäußerungen, die dem `Mainstream` entgegenstehen, werden als staatsfeindliche Aktion der Medien betrachtet.”[32]

Lettland sieht sich als Vorposten des Westens, von Demokratie und Freiheit, im Kampf gegen den russischen Autoritarismus.

Zentrum der Entscheidungsfindung“

Im April 2024 reiste Annalena Baerbock nach Riga. Laut des Tagesschau-Korrespondenten lobte sie ihre baltischen Kollegen in höchsten Tönen. So ein Bericht in der Tagesschau:

„Wie überall im Baltikum muss sich die Grünen-Politikerin fragen lassen: Warum unterstützt Deutschland die Ukraine nicht stärker – durch Waffen und einen Stopp russischer Energieimporte? Besonders deutlich wird [Außenminister] Gabrielius Landsbergis aus Litauen: ‚Es gibt nur zwei Seiten in diesem Kapitel der Geschichte: die richtige und die falsche. Nun ist nicht der Moment, zögerlich zu sein. Es ist ein kritischer Zeitpunkt. Eine kritische Probe, auf die wir gestellt werden, die demokratischen Gesellschaften der Welt. Und wir können nicht zulassen, dass die richtige Seite verliert.'“

Die deutsche Abhängigkeit von russischen Energielieferungen nennt [Baerbock] „fatal“. Und es kommt noch mehr Selbstkritik: „Wir haben vielleicht nicht genau hingehört, welche Gespräche es seit 2014 in euren drei Staaten bereits gegeben hat“, sagt Baerbock. „Daher bin ich hier, um mich in eure Haut zu versetzen, um die Gespräche, die seit Jahren im Baltikum geführt werden, ein bisschen nachempfinden zu können.“[33]

Deutschland könne von den drei baltischen Staaten viel über Wehrhaftigkeit lernen, so Baerbock. Seit Jahren investierten sie in die Sicherheit der Energieversorgung, der IT-Infrastruktur, in die Widerstandsfähigkeit der Medienlandschaft und in die Fähigkeiten der Verteidigung. Sie blickten schon lange intensiv und mit Sorge auf Russland. „Ihren Erfahrungen und Einblicken möchte ich genau zuhören“, so Baerbock.[34]

Im Herbst 2022 reiste EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola nach Riga. Metsola und Karins sind sich einig: Die Ukraine müsse von der EU und sämtlichen Mitgliedstaaten bis zum Sieg unterstützt werden. Metsola bekannte vor den Abgeordneten, dass seit der “russischen Invasion” das “Zentrum der Entscheidungsfindung” im Baltikum liege. Sie würdigte die Führungsstärke der lettischen Regierung.

Metsola rühmte in ihrer Rede Lettland, es habe andere Länder lange Zeit vor Russland gewarnt und recht behalten. Seit der “russischen Invasion der Ukraine” habe sich “das Zentrum der Entscheidungsfindung auf dem Gebiet der europäischen Verteidigung und Sicherheit” in die baltische Region verlagert. “Und Lettlands Erfahrung und Führungsstärke werden in den kommenden Schritten entscheidend sein, um die Bedrohungen für unsere demokratischen Werte und das Wohlergehen der EU zu überwinden,” meinte sie. Lettland sei ein Symbol der Hoffnung, der Transformation, der Resilienz, indem es die Qualitäten und Werte repräsentiere, für die Europa stehe.[35]

Anmerkungen

[1] Vgl. The Jews of Latvia, www.jewishgen.org.

[2] U. Silins, J. Vejins (2006): Latvija. Liktena gaitas 1918-1991. Riga: A/S Preses Nams, S. 94.

[3] Vgl. Vgl. Ute Schmidt: „Heim ins Reich“? Propaganda und Realität der Umsiedlungen nach dem „Hitler-Stalin-Pakt“, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 26, 2009. S. 43-60.

[4] Vgl. Vgl. Daina Bleiere: Padomju okupācija Latvijā, 1940.–1941. gads, Nacionālā Enciklopēdija, zuletzt aktualisiert am 5.4.2024, www.enciklopedija.lv/.

[5] Vgl. Daina Bleiere: 1941. gada 14. jūnija deportācija Latvijā, Nacionālā Enciklopēdija, zuletzt aktualisiert am 16.6.2024, www.enciklopedija.lv/.

[6] Vgl. Edvīns Evarts: Nacistiskās Vācijas okupācija Latvijā,1941.–1945. gads, Nacionālā Enciklopēdija, zuletzt aktualisiert am 11.3.2025, www.enciklopedija.lv/.

[7] Vgl. Jochen Kuhlmann: Maywald, Arajs und andere 60 Jahre NSG-Justiz in Hamburg. In: Jahrbuch Demokratische Geschichte 17, 2006. S. 135-172.

[8] Vgl. Dr. sc. Lothar Schröter: Die Blutspur der Legionäre, 17.11.2020, www. brandenburg.rosalux.de.

[9] Vgl. Andrejs Plakans: latviešu trimda pēc Otrā pasaules kara, Nacionālā Enciklopēdija, zuletzt aktualisiert am 9.1.2025, www.enciklopedija.lv/.

[10] Vgl. Daina Bleiere: Padomju otrreizējā okupācija Latvijā, Nacionālā Enciklopēdija, zuletzt aktualisiert am 30.1.2025, www.enciklopedija.lv/.

[11] Vgl. Gatis Krūmiņš: Latvijas neatkarības atjaunošana, Nacionālā Enciklopēdija, zuletzt aktualisiert am 4.5.2024, www.enciklopedija.lv/.

[12] Bruno Urmersbach: Europäische Union – Ranking der Einkommensungleichheit in den Mitgliedstaaten nach dem GINI-Index 2023, 28.1.2025, www.de.statista.com.

[13] Vgl. Udo Bongartz: Lettischer Bevölkerungsschwund: Wer macht das Licht aus?, 25.10.2024, www.lettlandweit.info.

[14] Vgl. Lettisches Centrum Münster: Lettland: Citadele-Bank zu billig verkauft, 20.10.2016, www.lcm.lv

[15] Vgl. Lettisches Centrum Münster: Arbeitspapier der EU-Kommission bemängelt die lettische Sozialpolitik, 28.03.2015,www.lcm.lv.

[16] Vgl. Lettisches Centrum Münster: Nichtbürger-Status: EU bekommt nun den schwarzen Peter, 9.2.2007, www.lcm.lv.

[17] Vgl. Julian Feldmann: Lettland: Jubel für SS und Bundeswehr, 17.3.2017, www.ndr.de.

[18] Vgl. Lettisches Centrum Münster: Nichtbürger-Status: Lettlands umstrittene Denkmal-Politik verursacht Streit im In- und Ausland, 2.6.2022, www.lcm.lv.

[19] Vgl. Udo Bongartz: Nazi-Kollaborateur Voldemars Veiss in Riga verehrt, 8.5.2023, www.lettlandweit.info

[20] Vgl. Lettisches Centrum Münster: Stadt Riga hat mit dem Abriss des sowjetischen Siegesdenkmals begonnen, 24.8.2022, www.lcm.lv.

[21] Vgl. Lettisches Centrum Münster: Lettische Innenministerin Marija Golubeva tritt zurück, 16.5.2022, www.lcm.lv.

[22] Vgl. Lettisches Centrum Münster: Die Integration der Russischstämmigen in die lettische Gesellschaft wird zur Frage der geopolitischen Sicherheit, 4.3.2022, www.lcm.lv.

[23] Vgl. Lettisches Centrum Münster: Lettischer Verteidigungsminister Artis Pabriks kritisiert die “pazifistische Nachkriegsphilosophie der deutschen Gesellschaft” und fordert Wandel im deutschen
Denken, 26.1.2022, www.lcm.lv

[24] Vgl. Lettisches Centrum Münster: Russland-Ukraine-Konflikt: Olaf Scholz traf sich mit den baltischen Regierungschefs, 11.2.2022, www.lcm.lv

[25] Vgl. Die Bundesregierung: Krieg verhindern, Frieden und Stabilität in Europa erhalten. Baltische Staats- und Regierungschefs beim Kanzler, 10.2.2022, www.bundeskanzler.de.

[26] Vgl. Deutscher BundeswehrVerband/dpa: Lettland will Militärausgaben auf fünf Prozent erhöhen, 19.2.2025, www.dbwv.de.

[27] Vgl. Udo Bongartz: Lettland: Schüler werden an der Waffe ausgebildet, 13.9.2024, www.lettlandweit.info.

[28] Vgl. Udo Bongartz: euvsdisinfo.eu: Geschwafel für den Nato Stammtisch, 21.7.2023, www.lettlandweit.info.

[29] Vgl. Udo Bongartz: 24. Februar: Lettische Relativierung des ukrainischen Endsieg, 24.4.2024, www.lettlandweit.info.

[30] Vgl. Udo Bongartz: Martialisches Gezwitscher 1: Der Sprachtest, 28.7.2023, www.lettlandweit.info.

[31] Neatkarīgā Rīta Avīze: VIDEO. “Azovas” kara mediķu komandieris: “Latvieši kļuvusi par lielākajiem “Azovas” pulka atbalstītājiem! [Video. „Asow“- Kriegsmedizinischer Kommandant: „Letten sind die größten Unterstützer des „Asow“-Regiments geworden], 16.1.2023, www.nra.lv.

[32] Vgl. Udo Bongartz: “Patriotischer Inhalt erwartet” – Journalisten beklagen politische Einflussnahme, 6.4.2024, www.lettlandweit.info.

[33] Vgl. Tagesschau: Baerbock im Baltikum: Die Übersetzerin des Kanzlers, www.tagesschau.de.

[34] Vgl. Tagesschau: Baerbock will baltische Staaten stärker unterstützen, 20.4.2022, www.tagesschau.de.

[35] Vgl. Lettisches Centrum Münster: Krisjanis Karins und Roberta Metsola fordern den Sieg der Ukraine, 28.10.2022, www.lcm.lv.